Juden im französischen Köln:
Das Bürgerrechtsgesuch des Baruch Cassel
vom 11. März 1812

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Angaben zum Bürgerrechtsgesuch

Archiv: Historisches Archiv mit Rheinischem Bildarchiv
Archivsignatur: HAStK-RBA, Best 350, A 190-11, fol. 8 und 10
Digitalisat in hoher Auflösung: Link im Mets-Viewer, laufende Bild-Nummern 21 u. 22

 

Transkription/Übersetzung

Autorin: Gisela Walger, Gruppe KölnErforschen

Cologne den 11. März 1812

An den Bürgermeister der Stadt Köln, Ritter des Kaiserreichs, Mitglied der Ehrenlegion

Herr Bürgermeister

Auf dringende Bitten meiner im Departement Mont Tonnere [Donnersberg] geborenen Frau, mich in Frankreich niederzulassen, da sie dieses Land für ihren Aufenthalt bevorzugt, habe ich mich entschlossen, meinen Wohnsitz von Deutz, meinem derzeitigen Aufenthaltsort, nach Köln zu verlegen, wofür ich das Haus Nr. 26 in der Laurenzgasse gemietet habe.

Das beiliegende Zeugnis des Herrn Bürgermeister von Deutz bestätigt mein gutes Benehmen und dass ich es verdiene, in die Liste Ihrer Administrierten aufgenommen zu werden.

Ich bitte Sie daher, mich in das Bürgerregister dieses Rathauses eintragen zu lassen.

Herr Bürgermeister, seien Sie meiner höchsten Wertschätzung versichert, mit der ich die Ehre habe, Ihr demütigster und gehorsamster Diener zu sein

Baruch Cassel

 

Weitere Erläuterungen zur Quelle

  • Vermerk:
    Weitergeleitet an das Polizeibüro, um in dieser Angelegenheit den gegen die Juden erlassenen kaiserlichen Dekreten zu entsprechen. Unterschrift: Dolleschall

Juden im französischen Köln: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit?

Verfasst für die Gruppe KölnErforschen von: Gisela Walger

Am 11. März 1812 bat der jüdische Kaufmann Baruch Cassel aus Deutz um Aufnahme in das Bürgerverzeichnis der Stadt Köln. Das Dokument befindet sich im Historischen Archiv der Stadt Köln. 

Auf den ersten Blick nichts Außergewöhnliches: In knappen Worten – natürlich auf französisch – begründet Baruch Cassel sein Anliegen, betont seine Verbundenheit mit Frankreich und seinen festen Entschluss, sich in Köln niederzulassen. Ungewöhnlich hingegen ist der Vermerk der Stadtverwaltung auf der Rückseite: „Weitergeleitet an das Polizeibüro, um in dieser Angelegenheit den gegen die Juden erlassenen kaiserlichen Dekreten zu entsprechen.“

Was genau sollte hier geprüft werden?

Bürgerrechte: Ein revolutionärer Schritt 1791

Am 27. September 1791 proklamierte die französische Nationalversammlung die rechtliche Gleichstellung aller französischen Juden – ohne Ausnahme und Einschränkung. Was für ein gewaltiger Schritt nach Jahrhunderten rechtlicher Erniedrigung, bloßer Duldung und Vertreibung! Ein epochaler Sprung, der den Prozess der Integration der Juden europaweit in Gang setzen sollte. 

Schon am 11. Dezember 1797 proklamierte der französische Regierungskommissar Rudler für die noch besetzten Rheinlande, die aber mit dem Frieden von Lunéville im Jahr 1801 endgültig Frankreich zugesprochen wurden, die neuen Bürgerrechte und die religiöse Toleranz. Dies galt auch für das jahrhundertelang „judenfreie“ Köln. Seit ihrer Vertreibung im Mittelalter hatten sie 374 Jahre lang kein Recht gehabt, sich in Köln niederzulassen, geschweige denn Bürger der Stadt zu werden. Nicht einmal in Köln übernachten durften sie, seit man sie 1424 endgültig aus der Stadt vertrieben hatte. Und nun ermöglichte die französische Herrschaft mit ihren revolutionären Prinzipen „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ de iure ihre Wiederzulassung in Köln! Im Laufe der folgenden Jahre wuchs die jüdische Gemeinde zwar, dennoch blieb sie mit 133 Personen im Jahr 1808 eine vergleichsweise kleine Gemeinschaft. 

Idee und Wirklichkeit: Umfassende Einschränkungen ab 1808

Mit der Verfassung von 1791 wurde zwar die rechtliche Gleichstellung der Juden formuliert, in der gesellschaftlichen Praxis sah es allerdings anders aus. Jahrhundertealte Vorurteile und Diffamierungen, soziale und wirtschaftliche Ausgrenzungen lebten besonders im Osten Frankreichs fort. Ab 1806 kam es vor allem im Elsass verstärkt zu Hetze und Gewalt gegen die Juden. Die christliche Bevölkerung klagte über Wucher, Raub und betrügerischen Handel und deren Wortführer drängten Napoleon, drastische Maßnahmen gegen die Juden zu ergreifen. 

Am 17. März 1808 erließ Napoleon schließlich das sogenannte „Schändliche Dekret“, mit dem die Rechte der jüdischen Minderheit im Vergleich zu ihren christlichen Mitbürgern drastisch eingeschränkt werden sollten: 

  • Geld- und Kreditgeschäfte wurden mit sofortiger Wirkung stark reglementiert und reduziert. Galten Forderungen eines Juden als wucherisch, konnten sie für null und nichtig erklärt werden.
  • Die Gewerbe- und Handelsfreiheit wurde mit großen Hürden versehen. Ohne Patent, das eine Art „Führungszeugnis“ war und jedes Jahr erneuert werden musste, durfte kein Geschäft oder Handel betrieben werden.
  • Die Niederlassungsfreiheit, in der Verfassung von 1791 garantiert, wurde für Juden quasi abgeschafft. Es sei denn, sie besaßen Land und betrieben ausschließlich Landwirtschaft.
  • Der Wehrdienst war – anders als für christliche Mitbürger, die sich von Freiwilligen ersetzen lassen durften – persönlich abzuleisten. 

Das Dekret galt für alle Juden, mit Ausnahme der jüdischen Bürger in Bordeaux und den Departements Gironde und Landes, die weder Anlass zur Klage gegeben noch nachweislich Wucher oder betrügerischen Handel getrieben hatten. Ob Napoleon im Sinn gehabt hatte, die Juden im Osten des Reichs durch verstärkte Kontrolle und Bevormundung zu nützlichen Staatsbürgern zu erziehen, sei dahingestellt. Die Juden selbst bezeichneten es als „décret infâme“, als „Schändliches Dekret“. Wieder einmal sahen sie sich kollektiv gedemütigt und dem Verdacht der Wucherei und Unredlichkeit ausgesetzt. 

Auch in Köln regte sich Widerstand. Unmittelbar nach Erlass des Dekretes ersuchte der hochangesehene Jude und Kölner Bürger Salomon Oppenheim die Regierung im April 1808 um Befreiung von den Bestimmungen des Dekrets. Unterstützt wurde er dabei von Kölns Bürgermeister, allerdings ohne Erfolg, die Beschränkungen blieben aufrecht. Im selben Monat ging auch das Gesuch des jüdischen Trödelhändlers Abraham David ein, der eine Kölnerin heiraten und sich in der Stadt niederlassen wollte. Sein Antrag wurde zunächst abgelehnt. Erst als er sein Gesuch präzisierte und um ein ausführliches Zeugnis ergänzte, worin „Wucher“ und „unerlaubter Handel“ explizit verneint werden und ihm „gutes Benehmen“ attestiert wird, gab die Stadtverwaltung seinem Gesuch statt. 

Ein weiteres Dekret vom 20. Juli 1808 sah schließlich die standesamtliche Erfassung aller Juden mit festen Vor- und Familiennamen vor. Die Tatsache, dass sie keine festen Familiennamen, sondern die Namen von Städten oder alttestamentarische Namen trugen, erschwerte insbesondere die Erfassung der wehrpflichtigen Männer. Dem folgend ließen sich zwischen dem 14. und 31. Oktober 1808 alle 133 in Köln ansässigen Juden mit festen Vor- und Familiennamen registrieren. Die Familien Oppenheim und Cassel durften den Städtenamen als Familiennamen ausnahmsweise behalten. 

Baruch Cassel: Trotzdem Kölner Bürger von 1812–1859

Kehren wir zurück zum Anfang und zu Baruch Cassels Gesuch, Kölner Bürger werden zu wollen. Es überrascht vor den beschriebenen Hintergründen, dass die Stadtverwaltung diesem bereits einen Tag nach Eingang stattgegeben hat. Laut Artikel 16 des „Schändlichen Dekrets“ hätte er sich als rechtsrheinischer Jude gar nicht in Köln, Roerdepartement, niederlassen dürfen. Die Gründe dafür wären hochinteressant, liegen aber leider im Dunkeln.

Sicher ist: Baruch Cassel war 24 Jahre alt, als er mit Frau und Kind von Deutz nach Köln übersiedelte. Er betätigte sich als Kaufmann und sollte später im preußischen Köln erfolgreicher Großkaufmann, Bankier und Landbesitzer werden. Damit gehörte er zu den wohlhabenden jüdischen Bürgern der Stadt, der für seine Gemeinde auch als Toragelehrter fungierte. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete er Rosa Auerbach, Tochter des bekannten Bonner Großrabbiners Abraham Auerbach. Baruch Cassel hatte insgesamt 9 Kinder. Er wurde 71 Jahre alt und starb als geachteter erfolgreicher Mann, obwohl das „Schändliche Dekret“ erst 1847 – lange nach Abzug der Franzosen – aufgehoben wurde. Allerdings endete damit – wie wir alle wissen – der durch Machthaber beförderte Antisemitismus leider nicht.

Zum Nachlesen:

  • Müller, Alwin, Die Geschichte der Juden in Köln von der Wiederzulassung 1798 bis um 1850, Köln 1984.
  • Hahn, Rolf, Das „Schändliche Dekret“ vom 17.3.1808 und seine Auswirkung auf die rechtliche Stellung der Kölner Juden, Köln 1967.
  • Zittartz-Weber, Susanne, Die jüdischen Gemeinden in der preußischen Rheinprovinz 1815–1871. In: Monika Grübel / Georg Mölich (Hg.): Jüdisches Leben im Rheinland vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln / Weimar / Wien 2005, S. 111–136.

Hinweis: Dieser Textbeitrag wurde am 11. April 2024 im Blog zeitenblicke erstveröffentlicht, Link zum Beitrag.

Anmerkung

Wir von der Kölner Frühen Neuzeit begleiten die Citizen-Science-Gruppe KölnErforschen seit dem Sommersemester 2022 bei ihrem Erschließungsprojekt zu den Kölner Bürgerrechtsgesuchen, ausgehend von der Französischen Zeit ab 1794.

Diese Transkription/Übersetzung ist im Rahmen der Kooperation mit unserem Projekt "1794 und die Folgen: Köln wird französisch!" für einen Beitrag auf unserem Blog zeitenblicke  zur Kölner Stadtgeschichte um 1800 entstanden.

Digitalisat und Transkription sind hinterlegt auf unserer Publikationsumgebung MAP-Lab, wo Beiträge der Frühen Neuzeit zum Kulturellen Erbe und der Geschichte der Stadt Köln publiziert werden.