Eine neue Zeitrechnung!
Im Zuge der Französischen Revolution sollte sich auf politischem, gesellschaftlichem und kulturellem Gebiet alles ändern – die traditionelle Kultur, insbesondere deren christlich-religiöse Prägung, wollten die Revolutionäre hinter sich lassen. Wie könnte man diesen Anspruch besser verdeutlichen, als wenn man buchstäblich die ganze Zeitrechnung umkrempelt? Genau das taten die Revolutionäre: Ein neuer Kalender wurde entwickelt, der das „Zeitalter der Freiheit“ neu erfassen sollte.
Dabei übertrugen die Revolutionäre das auch bei Maßen und Gewichten verwendete metrische System mit seinen praktischen einheitlichen Zehnerschritten vollständig auf die Zeit: Es gab zwar immer noch 12 Monate in einem Jahr, diese wurden aber auf genau 30 Tage festgelegt, die in drei Wochen („Dekaden“) zu zehn Tagen unterteilt wurden. Thomas Vogtherr führt dazu aus: „Das bedeutete, daß ein Jahr 36 ½ Dekaden oder 73 Halbdekaden umfassen sollte, deren einzelne sich jeder Bürger an den Fingern einer Hand abzählen konnte. Hier wird besonders deutlich, daß angesichts des Fehlens historischer Vorbilder für eine rational erscheinende Monatseinteilung eine Verbindung zwischen dem gesunden Menschenverstand und der mathematischen Künstlichkeit des Modells gesucht werden mußte.“ (Vogtherr, Thomas, Zeitrechnung. Von den Sumerern bis zur Swatch, 2. Aufl., München 2006, S. 106). Eine Orientierung an der biblischen Schöpfungsgeschichte, der zufolge Gott am siebten Tage ruhte, war damit aufgehoben – ein unangenehmer Nebeneffekt: Da es bei einem Ruhetag pro Woche blieb, war ein solcher nun nur noch alle zehn Tage vorgesehen. Die Namen der Tage bestanden aus einer schlichten Nummerierung – vom ersten Tag, primidi, zum zehnten Tag, decadi.
Die zwölf Monate führten nun ebenfalls nicht mehr die traditionellen Bezeichnungen, stattdessen orientierte man sich an der Natur, um jede Beziehung zur vorrevolutionären Kultur möglichst aufzuheben. Das Jahr begann mit den Herbstmonaten (Endung auf „-aire“), die Wintermonate endeten auf „-ôse“, die Frühlingsmonate auf „-al“ und die Sommermonate auf „-idor“. Wer mitgerechnet hat, dem fällt ein Problem auf: Mit zwölf Monaten zu jeweils 30 Tagen kommt man lediglich auf 360 Tage – ein Kalenderjahr muss aber mindestens 365 Tage umfassen (eigentlich 365,25). Es wurden also am Ende eines Jahres fünf (in Schaltjahren sechs) programmatische Feiertage (die sogenannten „Sansculottiden“) eingefügt, die jeweils einen besonderen revolutionären Grundgedanken verdeutlichen sollten – etwa ein „Tag des Geistes“ oder ein „Tag der Meinung“. Die restlichen Tage des Jahres wurden nach Pflanzen benannt. Kirchliche Feier- und Namenstage waren vollständig aufgehoben.
Der Beginn des ersten Jahres der neuen Zeitrechnung wurde auf den 22. September 1792 festgelegt – den Tag, an dem die Erste Republik in Frankreich ausgerufen und die Monarchie beseitigt wurde. Damit begann das „erste Jahr der Freiheit“. Doch ganz so universell blieb es nicht: In den Folgejahren kam es zu mehreren Reformen, etwa hinsichtlich der Jahreszählung.
Ohne alle diese Änderungen zu berücksichtigen, gliederte sich das Jahr nun wie folgt in die neuen Monate:
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Vendémiare („Weinlesemonat“) | 22. September bis 21. Oktober |
Brumaire („Nebelmonat“) | 22. Oktober bis 20. November |
Frimaire („Raureifmonat“) | 21. November bis 20. Dezember |
Nivôse („Schneemonat“) | 21. Dezember bis 19. Januar |
Pluvivôse („Regenmonat“ | 20. Januar bis 18. Februar |
Ventôse („Windmonat“) | 19. Februar bis 20. März |
Germinal („Keimmonat“) | 21. März bis 19. April |
Floréal („Blüten-/Blumenmonat“) | 20. April bis 19. Mai |
Prairial („Wiesenmonat“) | 20. Mai bis 18. Juni |
Messidor („Erntemonat“) | 19. Juni bis 18. Juli |
Thermidor („Hitzemonat“) | 19. Juli bis 17. August |
Fructidor („Fruchtmonat“) | 18. August bis 16. September |
Sansculottiden: | |
Jour de la Vertu („Tag der Tugend“) | 17. September |
Jour du Génie („Tag des Geistes“) | 18. September |
Jour de Travail („Tag der Arbeit“) | 19. September |
Jour de l’Opinion („Tag der Meinung“) | 20. September |
Jour de Récompenses („Tag der Belohnung“) | 21. September |
Jour de la Révolution („Tag der Revolution“) | Nur in Schaltjahren |
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Doch die Kalenderrevolution hörte hier nicht auf: Nicht das Jahr wurde einer neuen Ordnung unterworfen, sondern auch der Tag: Dieser umfasst bekanntlich in unserem Zeitmesssystem 24 Stunden, im Kalender der Revolution war er hingegen ebenfalls streng in zehn Stunden unterteilt. Das bedeutet, dass 12:00 Mittag nach dem uns vertrauten Stundensystem genau 5:00:00 Uhr nach dem Revolutionskalender entspricht. Die „Revolutionsstunde“ umfasste dabei entsprechend fast zweieinhalb Stunden nach dem 24-Stunden-System, ist also im Vergleich sehr lang.
Jede Stunde umfasste dabei genau 100 Minuten mit jeweils genau 100 Sekunden. Auf den ersten Blick besonders gewöhnungsbedürftig, aber Berechnungen sind in einem System, das wieder streng metrisch organisiert ist, viel einfacher: 1,5 Stunden sind zum Beispiel nach revolutionärer Zeit genau 150 Minuten oder genau 15.000 Sekunden – statt 90 Minuten oder 5.600 Sekunden in unserem Zeitsystem. Es muss bei der Umrechnung nur das Komma der Dezimalzahl verschoben werden. Trotzdem: In der Praxis war besonders die Tagesmessung sehr kompliziert durchzusetzen – obwohl es sogar Taschenuhren gab, die beide Zeiten gleichzeitig anzeigen konnten und damit die Orientierung erleichtern sollten. Aber Taschenuhren konnten sich natürlich nur wenige Menschen leisten.
Im Alltag der meisten Menschen kam das neue Zeitsystem deshalb kaum wirklich vor. Dennoch wurde versucht, das neue Zeitschema den Menschen nahezubringen: Thomas Vogtherr verweist auf die „großangelegte Kampagne der Volkserziehung […], mit deren Hilfe der neue Kalender in seinen Grundelementen bekannt und seine Überlegenheit gegenüber der bisherigen Regelung glaubhaft gemacht werden sollte. Ideologische und praktische Anforderungen verbinden sich in diesem Bemühen zu einem schwer entwirrbaren Knäuel: Den christlichen Kalender als Machtinstrument der politisch abgeschafften Monarchie zu denunzieren war das eine, ihn als völlig irrational und beliebig zu brandmarken das andere. Dagegen wurde die Herkunft des neuen Kalenders aus dem Geiste der Rationalität betont, wurde seine Übereinstimmung mit Naturphänomenen besonders hervorgehoben und erhielt er seine politische Dignität vor allem aufgrund seines Entstehens im Verlauf der Revolution.“ (Vogtherr, Thomas, Zeitrechnung. Von den Sumerern bis zur Swatch, 2. Aufl., München 2006, S. 108).
So grundlegend der hehre Anspruch des neuen Kalenders auch war: Mit Beginn des Jahres 1805 (nach altem Kalender!) wurde die Revolutionszeitrechnung von Kaiser Napoleon wieder abgeschafft – er hatte sich wohl einfach nicht wie erhofft durchsetzen können.
Trotzdem operieren die Quellen aus den Jahren zwischen 1792 und 1805 ganz selbstverständlich mit dem Datum nach Revolutionskalender – wenn man sich also mit den Gebieten beschäftigt, die von Frankreich in dieser Zeit erobert und dann in die französische Verwaltung eingegliedert wurden, muss man sich auf diese Daten einstellen. Manchmal wird auch eine parallele „alte“ Datumsangabe („alten Styls“ wie es in den Quellen dann oft heißt) ergänzt, dann ist es nicht zwangsläufig erforderlich, selbst zu rechnen – für alle anderen Fälle ist es gut, dass es in der Geschichtswissenschaft eine ganze Reihe von Hilfsmitteln gibt. Ein Klassiker ist „der Grotefend“ – ein zweibändiges Buch zu historischen Zeitrechnungssystemen aus dem späten 19. Jahrhundert. Der Band ist als html-Fassung vollständig online abrufbar. Besonders praktisch ist der Umrechner, mit dem sich französische Daten problemlos in den gregorianischen Kalender übertragen lassen.
Zur Umrechnung:
Grotefend, Hermann, Zeitrechnung des Deutschen Mittelalters und der Neuzeit, 2 Bde., Hannover 1891–1898, html-Version von Horst Ruth, URL: http://bilder.manuscripta-mediaevalia.de/gaeste/grotefend/grotefend.htm (abgerufen am 8. Oktober 2024), bietet einen Umrechner zwischen verschiedenen (historischen) Kalendersystemen.
Zum Weiterlesen:
O. A., Bemerkungen über die französische und die gewöhnliche Zeitrechnung, in: O. A., Kalender zum Gebrauche der Bewohner der vier neuen Departemente auf dem linken Rheinufer. Siebentes Jahr der Französischen Republick bis zum 13 Nivose 8ten Jahrs. Vom 22ten September 1798 bis zum 1ten Jänner 1800 a[lten] St[ils], Koblenz 1798, S. 9–11, online abrufbar unter der URL: https://katalog.ub.uni-koeln.de/portal/users/id/20952/databases/id/uni/titles/id/991055656253806476.html?l=de (abgerufen am 27. März 2025).
Grotefend, Hermann, Zeitrechnung des Deutschen Mittelalters und der Neuzeit, 2 Bde., Hannover 1891–1898, html-Version von Horst Ruth, URL: http://bilder.manuscripta-mediaevalia.de/gaeste/grotefend/grotefend.htm (abgerufen am 27. März 2025). Besonders interessant: Glossar (siehe „Revolutionskalender“ unter „R“).
Vogtherr, Thomas, Zeitrechnung. Von den Sumerern bis zur Swatch, 2. Aufl., München 2006, S. 103–113.
Video: Der französische Revolutionskalender, eine neue Zeitrechnung | Karambolage | ARTE, 4. Februar 2022, URL: https://www.youtube.com/watch?v=Ozgmor0j72k (abgerufen am 27. März 2025).